Strasser, Mag. Christina, 30.12.2006.
Eine qualitative Untersuchung am Beispiel von burgenland-kroatischen Volksschülern in Nikitsch/Filež/ Burgenland, Wien 2006.
Ziel der empirischen Untersuchung war es, anhand der Interpretation der Interviews von VolksschülerInnen aus Nikitsch/Filež einen Einblick in die Identitätsentwicklung kroatischsprachiger Kinder im Burgenland zu gewähren, die in den ersten Lebensjahren fast nur oder ausschließlich mit der kroatischen Sprache aufwachsen und das Deutsche erst zu einem späteren Zeitpunkt – wie zum Beispiel mit dem Eintritt in den Kindergarten – erwerben. Es sollte die Rolle der Erst- und Zweitsprache sowie anderer Einflussvariablen wie Sprache, Umfeld, Gruppe und Rollenerwartung im Prozess der Identitätsentwicklung der Kinder beleuchtet werden.
In der Studie wurde der Identitätsbegriff als „das Gesamt der Antworten auf die Fragen: Wer bin ich? und Wer sind wir?“ (Reinhold, Gerd u.a. [Hg.]: Soziologie-Lexikon, R.Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München u. Wien 2000, S. 276.) sowie im Sinne von Erik H. Eriksons Definition verwendet: „Identität ist das dauernde innere Sich-selbst-Gleichsein, die Kontinuität des Selbsterlebens eines Individuums“ Erikson, Erik H.: Childhood and Society, New York 1963, zitiert nach: Reinhold, Gerd u.a. [Hg.]: Soziologie-Lexikon, R.Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München u. Wien 2000, S. 276. Den leitenden theoretischen Bezugsrahmen der Diplomarbeit stellten Eriksons drei Dimensionen des Identitätsbegriffs sowie dessen Phasenmodell zur Identitätsentwicklung dar, (3) Vgl. Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000. auf die sich auch die Ergebnisse der Diplomarbeit stützen.
Eckdaten der Studie
Die Studie wurde qualitativ angelegt. Insgesamt wurden neun problemzentrierte Leitfadeninterviews mit Volksschulkindern aus Nikitsch/FileI sowie je einem Elternteil und dem Klassenlehrer geführt. Allgemein bestanden die Interviewleitfäden aus fünf bis sechs ausgewählten Schwerpunkten zum Thema Identität (Selbstwahrnehmung und Zuschreibung, Bewusstwerdung der ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit, Persönlichkeitsentwicklung, unterschiedliche Rollenerwartungen, Identifizierung mit der kroatischen und der deutschen Sprache, Identifizierung mit Angehörigen der Volksgruppe und mit Gleichaltrigen). Alle der durchgeführten Interviews wurden transkribiert und systemanalytisch interpretiert.
Hauptergebnisse der Studie
Selbstbewusstsein und positive Selbstwahrnehmung
Alle der befragten Kinder haben eine sehr positive Einstellung zu sich selbst und verbinden nur Vorteile damit „Kroatisch zu sein“. Jedes Kind ist stolz auf seine Familie und würde nichts an ihr ändern wollen beziehungsweise könnte es sich nicht vorstellen, innerhalb der Familie Deutsch zu sprechen. Die interviewten Kinder begreifen die kroatische Familiensprache als persönliche Bereicherung, wodurch sie sich im Vergleich zu einsprachigen Kindern im Vorteil fühlen. Schon von klein auf wurde ihnen ein positives Selbstbild in der Erziehung vermittelt und sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung dahingehend gestärkt, stolz auf sich selbst, die Volksgruppe und die Burgenlandkroatische Sprache zu sein.
Selbstbild unterscheidet sich von Deutschsprachigen kaum
Das Selbstbild der befragten Kinder im Volksschulalter unterscheidet sich kaum von „nur“ deutschsprachigen Kindern. Da sie beide, die kroatische und die deutsche Sprache beherrschen, sehen sich die Interviewten gleich wie andere Kinder in diesem Alter. Die Selbstdefinition baut nicht ausschließlich auf kroatischen Identitätselementen auf – obwohl diese das Selbstbild entscheidend mitprägen – da sie mit immer neu hinzukommenden Identitätselementen arrangiert und integriert werden.
Verbindung des eigenen Identitätsgefühls mit einer dörflichen Gruppenidentität
Schon von klein auf wurde das eigene Identitätsgefühl der interviewten Kinder in einem kroatischsprachigen Umfeld mit einer kroatischen Gruppenidentität verknüpft. Die Identitätsentwicklung der Kinder steht in direktem Zusammenhang mit einem gemeinsamen Gruppenbewusstsein und der Gruppenidentität im Dorf.
Selbstverständlichkeit der kroatischen Sprache und Wurzeln bis zum Eintritt in den Kindergarten
Die befragten Kinder wuchsen automatisch in ihre kroatischen Wurzeln und die Burgenlandkroatische Volksgruppenzugehörigkeit hinein, ohne sie zu hinterfragen. Durch deutschsprachige Medien und den Eintritt in den Kindergarten, den in der Regel kroatisch- und deutschsprachige Kinder besuchen, erfolgte in den meisten Fällen zum ersten Mal eine bewusste Auseinandersetzung damit. Da keines der Kinder Probleme hatte, sich im Kindergarten einzuleben und die deutsche Sprache zu erlernen bzw. mit „nur“ deutschsprachigen Kindern zu kommunizieren, ging diese Bewusstwerdung automatisch nebenher und beschäftigt die Kinder nicht lange. Sie empfinden es als selbstverständlich, dass es verschiedene Sprachen und Zugehörigkeiten gibt.
Identifikation mit Gleichaltrigen
Die befragten Kinder identifizieren sich mit allen Gleichaltrigen gleich stark, egal ob kroatisch- oder deutschsprachig. Es ist allerdings anzunehmen, dass die Identifikation mit kroatischsprachigen Gleichaltrigen zu einer Verstärkung der kroatischen Identitätselemente und zu einer stärkeren Verknüpfung der Ich- mit der kollektiven kroatischen Gruppenidentität führt.
Wichtigkeit deutscher Sprachbeherrschung für das Selbstwertgefühl
In den Interviews wurde immer wieder deutlich, dass sich die Sprachkompetenz in der deutschen Sprache stark auf das Selbstwertgefühl der befragten Kinder auswirkt, unabhängig davon, wie positiv sie zu ihrer kroatischen Familiensprache beziehungsweise zum „Kroatisch-Sein“ stehen. Von allen Kindern wurde direkt oder indirekt geäußert, sich schon einmal Gedanken oder sogar Sorgen gemacht zu haben, etwas auf Deutsch nicht zu verstehen.
Positive Auswirkung des Erlernens der deutschen Sprache auf die Identitätsentwicklung
Das Erlernen der deutschen Sprache wirkte sich bei jedem der befragten Kinder positiv auf das Selbstwertgefühl und die Identitätsentwicklung aus. Die Integration deutschsprachiger Identitätselemente führte bei keinem der Kinder dazu, die bis dahin gefundene Identität sowie die kroatischen Identitätselemente in Frage zu stellen. Alle Elternteile gaben an, dass sich ihre Kinder beim Erlernen des Deutschen gut fühlten, stolz auf ihre eigenen Leistungen in der neuen Sprache waren und Vertrauen in die eigene Sprachkompetenz entwickelten. In keinem Fall führte der Zweitsprachenerwerb zu einer Hierarchisierung der Sprachen. Die Kinder nehmen die kroatische und die deutsche Sprache als gleichwertig an, für sie sind Sprachen und einzelne Wörter austauschbar. Insofern ist das Switchen zwischen den einzelnen Sprachen für sie selbstverständlich.
Familiensprache wird bewusst (noch) keine identitätsstiftende Bedeutung zugeschrieben
Während die kroatische Sprache für Elternteile der wichtigste Ausdruck ihrer Identität ist sowie oberste Priorität hat, betrachten sie deren Kinder als selbstverständlich gegeben und schreiben ihr diesbezüglich (noch) nicht die Bedeutung zu, wie es ihre Elternteile tun. Sie betrachten Sprache an sich in erster Linie als Kommunikationsmittel, deren Ziel die Verständigung ist. Ihnen ist es am wichtigsten, andere zu verstehen und sich mit dem Gegenüber unterhalten zu können. Die befragten Kinder machen die Sprachwahl von ihrem Gegenüber abhängig und stellen sich auf den Gesprächspartner beziehungsweise auf dessen Sprache ein.
Frühes Identitätsgefühl wird in deutschsprachigem Umfeld erweitert
Die Interviews lassen vermuten, dass sich der Identitätsfindungsprozess der befragten zweisprachigen von jenem einsprachiger Kinder unterscheidet, da eine Identität mit zwei Sprachen „erst“ gefunden werden muss. Aufgrund der Ergebnisse der Untersuchung ist anzunehmen, dass die kroatische und die deutsche Sprache wichtige Faktoren im Identitätsfindungsprozess darstellen. Das frühe Identitätsgefühl, welches über die kroatische Sprache entwickelt wurde, wird durch den Eintritt in ein deutschsprachiges soziales Umfeld, wie beispielsweise den Kindergarten, über den Zweitspracherwerb erweitert. Identifikationen früher Lebensphasen mit kroatischen Identitätselementen bzw. kroatischsprachigen Personen werden im neuen sozialen Umfeld mit neuen Identifikationselementen durch den Kontakt zu deutschsprachigen Personen sowie das Erlernen der deutschen Sprache zu einer neuen Identität integriert.
Spielerische Vereinbarkeit von verschiedenen Identifikationselementen und Gruppenidentitäten
Die Interviews zeigten, dass die befragten kroatischsprachige Kinder keine Probleme haben, sich im Laufe ihrer Identitätsentwicklung mit verschiedenen Gruppen zu identifizieren und sie als Identifikationselemente in die eigene Identität zu integrieren, da sie spielerisch verschiedene Gruppenidentitäten verknüpfen können, vor allem durch die Fähigkeit zum Switchen, sowohl im sozialen als auch im sprachlichen Bereich. Durch die Identifikation mit einer neuen Gruppe wurde in keinem Fall ein Überdenken der Ich-Identität ausgelöst. Die erlebte Fähigkeit des Sich-Anpassen-Könnens gibt allen Kindern ein gutes Ich-Gefühl und hat einen positiven Effekt auf die Identitätsentwicklung.
Keine divergierende Rollenerwartungen im familiären und sozialen Umfeld
Die befragten Kinder werden nicht mehr und nicht weniger mit unterschiedlichen Rollenerwartungen im familiären und im sozialen Umfeld konfrontiert als „nur“ einsprachige Kinder. Durch die Rollenerwartungen im familiären Umfeld wird die Bedeutsamkeit der kroatischen Sprache und der kroatischen Volksgruppe für den Prozess der Identitätsfindung beziehungsweise für die sich entwickelnde Ich-Identität verstärkt. Die kroatische Sprache und die damit verbundene Gruppenidentität werden durch die elterliche Erziehung zu wesentlichen Elementen der sozialen Rolle.